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1. Was ist Zahnarztangst?
Ist das noch normale Nervosität – oder schon Zahnarztangst? Hier erfahren Sie, was genau Zahnarztangst ist, wie häufig sie vorkommt, welche Symptome sie hat, wie sie diagnostiziert wird, ob sie als psychische Erkrankung anerkannt ist und was ihre Ursachen sein könnten.
Zahnarztangst ist ein griffiger, gängiger, aber nichtsdestotrotz nicht ganz korrekter Begriff: Eigentlich ist es ja normalerweise nicht die Person des Zahnarztes, die im Zentrum dieser Angst steht, sondern die Instrumente und Umstände der Zahnbehandlung. Strenggenommen handelt es sich bei der Zahnarztangst also um eine Zahnbehandlungsangst.
Eine gewisse Angst vor unangenehmen, potentiell schmerzhaften Prozeduren, vor der Überschreitung der persönlichen (Scham-)Grenzen, die Manipulationen im Mund durch einen im Grunde fremden Menschen immer auch beinhalten, ist völlig normal. Der Übergang zwischen dieser normalen Angst und der pathologischen Angst, der Phobie, ist nicht immer leicht auszumachen. Aber er liegt ungefähr dort, wo der Teufelskreis der Vermeidung beginnt: Betroffene schieben Zahnarzttermine auf, verpassen den einmal gemachten Termin … und dann auch den Ersatztermin. Der verpassten Vorsorgeuntersuchung folgt das Zahnproblem. Das Problem wird zur Baustelle – und damit wird die Angst vor der nunmehr dringend notwendigen Behandlung immer größer: Je länger der Zahnarztbesuch aufgeschoben wurde, desto mehr Grund sehen Phobiker, ihn auch weiterhin zu vermeiden.
Wen Schmerzen schließlich doch angstgeschüttelt zum Zahnarzt oder zum zahnärztlichen Notdienst treiben, dem lässt sich eine leichte bis moderate Zahnbehandlungsangst attestieren. Schwere Fälle betäuben die Schmerzen mit Schmerzmitteln und verdrängen jeden Gedanken an ihre Zähne. Im Extremfall spitzt sich die Situation dahingehend zu, dass auch die Mundhygiene weitgehend unterlassen wird. Intime soziale Situationen, in denen die miserable Mundgesundheit auffallen könnte, werden vermieden, Kontakte aus Scham abgebrochen. Was als Zahnarztphobie begonnen hat, schränkt dann das persönliche Leben in ähnlichem Maße ein wie eine Depression – und tatsächlich ist ein enger Zusammenhang zwischen Angststörung und Depression für die verschiedensten Angsterkrankungen gut belegt. Außenstehende mögen schockiert und verständnislos reagieren, wenn etwa die Medien über Fälle extremer Zahnarztangst und ihre Folgen berichten. Zahnarztphobiker können problemlos nachvollziehen, wie es so weit kommen kann.
1.1 Wie häufig ist Zahnarztangst?
Große Studien zum Thema Dentalphobie gibt es kaum. Sehr oft wird angegeben, in den Industrieländern würden um die 10 Prozent der Bevölkerung an einer ausgeprägten Zahnbehandlungsangst leiden. Diese Schätzung untermauert eine 2009 und 2010 in Großbritannien durchgeführte Befragung, während der bei 11,6 % von mehr als 11.000 landesweit zufällig ausgewählten Teilnehmern eine stark ausgeprägte Zahnbehandlungsangst diagnostiziert wurde.[1] Weiterhin liegen lediglich kleinere Studien vor, die durch ihre geringe Teilnehmerzahl (meist im Bereich von wenigen hundert Probanden), teils auch durch ihre nicht-zufällige Teilnehmerauswahl (z.B. nur Patienten einer bestimmten Zahnarztpraxis) weniger Anspruch erheben können, repräsentativ zu sein. Eine Veröffentlichung von 2016 meldet für 1070 Patienten einer großen New Yorker Zahnklinik einen Anteil von 21 % Angstpatienten.[2] Unter 308 Patienten von vier US-amerikanischen Zahnkliniken im Raum Boston ermittelten Forscher 2017 eine Häufigkeit der moderaten bis starken Dentalphobie von 19 %.[3] Deutsche Zahnärzte befragten im Jahr 2009 300 Bochumer Einwohner und ermittelten eine Häufigkeit von etwa 11 % für die Dentalphobie.[4] Eine Studie aus dem Jahr 2015 fand unter 1203 chinesischen Zahnarztpatienten einen Anteil von 23,4 % Angstgeplagten.[5]
Diese beispielhaften Studienergebnisse legen nahe, dass der Anteil von Angstpatienten an der Gesamtbevölkerung möglicherweise sogar deutlich über 10 % liegen könnte – auch wenn wir hier vermutlich nicht von über 10 % regelrechten Phobikern sprechen.
1.2 Was sind die Symptome der Zahnarztangst?
Zahnbehandlungsphobiker zeigen ausgeprägte emotionale und körperliche Angstreaktionen
- während einer zahnärztlichen Behandlung
- wenn sie Reizen ausgesetzt sind, die ihnen die Empfindungen während einer zahnärztlichen Behandlung ins Gedächtnis rufen (Gerüche, Geräusche, optische Eindrücke)
- bei der Erwartung einer zahnärztlichen Behandlung
Typische körperliche Symptome der Angst sind Herzrasen, Bluthochdruck, Zittern, Muskelverkrampfung, Schweißausbrüche, Mundtrockenheit, Übelkeit, Atemnot und das Gefühl, einer Ohnmacht oder einem Kreislaufkollaps nahe zu sein.
Betroffene sind ihrer Angst ausgeliefert: Im Gegensatz zu nicht pathologischen Angstgefühlen lässt sich die Phobie weder durch eigene Anstrengungen beherrschen noch durch durch herkömmliche vertrauensstärkende Bemühungen des Zahnarztteams verringern. Auch Ablenkungsversuche (Musik oder Höreindrücke über Kopfhörer, Videos oder Videospiele) zeigen keine ausreichende Wirkung.
Die Angst setzt sich zusammen aus
- Angst vor Schmerzen
- Angst vor dem Ausgeliefertsein und vor der Verletzung der eigenen Intimsphäre
- Angst, wegen des Zustands oder Aussehens der eigenen Zähne schlecht beurteilt zu werden
- Angst vor der Angst
Durch die Angst vor der Angst, also die Angst vor dem angstinduzierten beängstigenden emotionalen und körperlichen Zustand, bekommt die Phobie ein selbstverstärkendes Element, das sie zu einem Teufelskreis macht.
Zusätzlich zur Zahnarztangst – oder auch unabhängig von einer bestehenden allgemeinen Zahnbehandlungsphobie – können auftreten
- eine Spritzenphobie, also eine Angst, die sich konkret auf die Injektion des Lokalanästhetikums bzw. das Legen des venösen Zugangs bei der Dämmerschlafsedierung und Narkose bezieht
- extremer Würgereiz bei zahnärztlichen Prozeduren
1.3 Ist Zahnarztangst eine anerkannte psychische Erkrankung?
Ausgeprägte Zahnarztangst ist eine anerkannte psychische Störung – unter den Fachtermini Zahnbehandlungsphobie, Dentalphobie, Odontophobie oder Oralphobie kann sie von einem Psychotherapeuten oder von einem Facharzt der Fachrichtungen Psychiatrie und Psychotherapie beziehungsweise Psychosomatische Medizin und Psychotherapie diagnostiziert werden. Sie wird unter die spezifischen Phobien eingeordnet, die wiederum zu den Angststörungen gehören. In der „Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme“ der WHO fällt die Zahnbehandlungsphobie unter die Katalognummer F40.2.
Ein Zahnarzt ohne zusätzliche Qualifikation als Psychotherapeut kann eine Zahnarztphobie zwar mit einiger Sicherheit diagnostizieren, die Diagnose wird jedoch von den Krankenversicherungen nicht anerkannt, wenn es beispielsweise um die Kostenerstattung für besondere Behandlungsleistungen geht.
1.4 Wie wird Zahnarztangst diagnostiziert?
Verbreitete Diagnosewerkzeuge sind Selbsteinschätzungs-Fragebögen. Der Klassiker ist ein Vier-Fragen-Fragebogen, die sogenannte „Dental Anxiety Scale“ (DAS) nach Corah. Der einfache Fragebogen wurde 1969 von dem amerikanischen Psychologen Norman L. Corah (gewissermaßen der Vater der Zahnbehandlungsangst-Forschung) entwickelt [6] und 1996 von der deutschen Psychologin Dr. Jutta Margraf-Stiksrud ins Deutsche übertragen.[7] Die fünf jeweils möglichen Antworten werden mit einem bis fünf Punkten bewertet. Eine Gesamtpunktzahl von 13 bis 14 Punkten weist bereits auf eine deutlich erhöhte Zahnarztangst hin; ab 15 Punkten lässt sich von einer hochgradigen Zahnbehandlungsangst sprechen. Mitunter wird auch eine leicht modifizierte Form des Diagnosebogens verwendet, die zusätzlich eine Frage zur Spritzenangst enthält.[8]
Eine etwas umfassendere Beurteilung der Zahnarztangst ermöglicht der „Hierarchische Angstfragebogen“ HAF, der 1999 von dem Bochumer Zahnarzt Peter Jöhren entwickelt wurde: Elf Unterpunkte fragen hier die emotionale Reaktion auf zunehmend angsterregende Szenarien rund um den Zahnarztbesuch ab.[9] Die Skala der möglichen Antworten reicht von „entspannt“ über „unruhig“, „angespannt“, „ängstlich“ bis „krank vor Angst“, für die jeweils ein bis fünf Punkte notiert werden. Ergeben die Punkte bei Addition einen Wert von über 38, weist das auf eine Angststörung hin.
Psychotherapeuten und Zahnärzte, die auf Angstpatienten spezialisiert sind, nutzen diese Fragebögen, um das Ausmaß der Phobie ihrer Patienten abzuschätzen. Der Einsatz eines Fragebogens ersetzt jedoch nicht das persönliche Anamnesegespräch und die Beobachtung des Patienten.
1.5 Was sind die Ursachen von Zahnarztangst?
Die schlimme Zahnarzterfahrung in der Kindheit? Eltern, die selbst an Zahnarztangst litten? Etwas ganz anderes? Oder gar eine genetische Veranlagung?
Zunächst einmal: Dass Ängste überwiegend erlernte Denk- und Verhaltensweisen sind, darüber sind sich die Fachleute heute weitgehend einig. Vermutlich gibt es einige Ängste, die sich evolutionär als so nützlich erwiesen haben, dass sie zu Instinkten, also zu angeborenen Ängsten wurden: Dazu gehört wohl der Schreck bei unbekannten und unerwarteten Geräuschen, der unsere Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Und vielleicht auch die Angst vor der Dunkelheit. Die Angst vor dem Zahnarzt dagegen ist, wie die meisten anderen Ängste, ganz bestimmt nicht angeboren: Einerseits wirken Mutation und Selektion, die Mechanismen der Evolution, auf einer Zeitskala von zehntausenden von Jahren – so lange gibt es Zahnärzte ja noch gar nicht. Und andererseits: Welcher Selektionsvorteil sollte wohl im Vermeiden von Zahnarztbesuchen liegen?
Ängste werden üblicherweise in der Kindheit erlernt. Und zwar
- über nicht gut verarbeitete traumatisierende Erfahrungen mit dem konkreten Angstgegenstand – sprich, der/die schmerzhafte(n) und/oder schamvolle(n) Zahnarztbesuch(e) in der Kindheit, über die Sie niemals richtig mit einem mitfühlenden Gegenüber gesprochen haben
- über soziale Vorbilder – sprich, die Ihnen in der Kindheit nahestehenden Menschen litten ebenfalls an einer ausgeprägten Zahnbehandlungsangst und machten Ihnen gegenüber auch keinerlei Hehl daraus: daraus mussten Sie natürlich schlussfolgern, dass Zahnärzte in der Tat höchst bedrohlich sind und Zahnarztangst eine sozial akzeptierte und sinnhafte Verhaltensweise ist
- über psychische „Kristallisationsprozesse“, bei denen eine Angst für das Kind so existenzbedrohlich ist, dass sie nicht zugelassen werden kann (beispielweise die Angst vor dem Missbrauch durch einen nahestehenden Erwachsenen, oder die Angst vor dem Verlust eines Elternteils) und sich als „frei flottierende“ Angst an einem psychisch weniger problematischen Stellvertreter-Objekt festmacht. Oft steht das „neue“ Objekt in irgendeiner echten oder symbolischen Beziehung zum „wahren“ Objekt – ein visuelles Detail, ein Geruch, eine taktile Empfindung. Es kann aber auch sein, dass sich die Angst einfach für eines der klassischen Angst-Objekte „entscheidet“: Große Höhen oder Kriechgetier sind zum Beispiel machtvolle Symbole für das Alleingelassensein beziehungsweise für schleichende, unverstandene Gefahren. So kann auch der Zahnarzt verstanden werden: als Symbol für „ganz allein einer unbekannten Bedrohung ausgeliefert sein“, für „Schmerzen erwarten und sich dabei nicht vom Fleck rühren dürfen“
Wie gesagt, die meisten Ängste sind nicht angeboren. Angeboren oder durch psychischen Stress in der frühesten Kindheit oder sogar im Mutterleib erworben kann dagegen eine Neigung zu Ängsten sein: Aus der Balance geratene Stresshormone bewirken ein besonders intensives Erleben von Bedrohung und geringe Fähigkeiten zur Selbstberuhigung – und begünstigen damit die Entstehung von Ängsten. Ähnliches kann übrigens auch infolge von organischen Erkrankungen wie etwa einer Funktionsstörung von Schilddrüse, Nebenniere oder Hirnanhangsdrüse der Fall sein!
[1] UK population norms for the modified dental anxiety scale with percentile calculator: adult dental health survey 2009 results. G. Humphris et al., BMC Oral Health 13 (2013), S.29
Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3691614/
[2] Dental Fear and Avoidance in Treatment Seekers at a Large, Urban Dental Clinic. R.E. Heyman et al. Oral Health and Preventive Dentistry 14 (2016), S.315
Online: http://ohpd.quintessenz.de/index.php?doc=abstract&abstractID=36468/
[3] The Prevalence of Dental Anxiety in Dental Practice Settings. A.M. White et al. Journal of Dental Hygiene 91 (2017), S.30
Online: http://jdh.adha.org/content/91/1/30.abstract
[4] Dental anxiety in a representative sample of residents of a large German city. N. Enkling, G. Marwinski, P. Jöhren Clinical Oral Investigations 10 (2006), S.84
Online: https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00784-006-0035-6
[5] Dental fear and its possible relationship with periodontal status in Chinese adults: a preliminary study. Yeungyeung Liu et al. BMC Oral Health 15 (2015), S.18
Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4417219/
[6] Development of a Dental Anxiety Scale. N.L. Corah, Journal of Dental Research 48 (1969), S.596
Online: http://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/00220345690480041801
[7] Angst und Angstabbau. J. Margraf-Stiksrud in: Psychologie und Psychosomatik in der Zahnheilkunde, Herausgeber H.G. Sergl, München: Urban & Schwarzenberg (1996)
[8] The modified dental anxiety scale: UK norms and evidence for validity. G. Humphris et al. Community Dental Health 12 (1995), S. 143
Online: https://www.researchgate.net/publication/15613718_The_Modified_Dental_Anxiety_Scale_Validation_and_United_Kingdom_Norms
[9] Validierung eines Fragebogens zur Erkennung von Zahnbehandlungsangst. P. Jöhren. ZWR – Das Deutsche Zahnärzteblatt 108 (1999), S.104
Online: https://www.researchgate.net/publication/289520601_Validierung_eines_Fragebogens_zur_Erkennung_von_Zahnbehandlungsangst